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Jaksches Doping-Beichte "Skrupel gab es keine mehr"

Er galt als Kronprinz Jan Ullrichs beim Team Telekom, fuhr für spanische und dänische Top-Teams. Nun gestand Jörg Jaksche im SPIEGEL jahrelanges Doping und stellt sich als Kronzeuge zur Verfügung. Lesen Sie im ersten Teil des Interviews, wie die Dopingkarriere von "Bella" beim Team Polti begann.

Sein Handy und eine schwarze Plastiktüte, das ist alles, was er mitgebracht hat ins Hotel Universo an der Piazza del Giglio von Lucca. Er trägt ein weißes Hemd, Jeans, Turnschuhe und sieht aus wie ein Student, der von einer Vorlesung kommt. Es ist Freitag, der 15. Juni, in drei Wochen beginnt die Tour de France. Jörg Jaksche wird nicht mitfahren dürfen. Am Morgen hat er trotzdem trainiert, zwei Stunden lang in den Hügeln der Toskana. Normalerweise fährt er jeden Tag sechs Stunden, weil er die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, irgendwann wieder richtig Rennen zu fahren. Aber heute ist kein normaler Tag. Jaksche fragt, ob es Neuigkeiten gebe, neue Gerüchte, irgendetwas, was er wissen müsse. Er spricht leise und zögerlich, er spricht wie jemand, der sich seiner Sache nicht ganz sicher ist.

In der schwarzen Plastiktüte steckt ein Aktenordner, in dem er den Ermittlungsbericht der Guardia Civil über den spanischen Doping-Arzt Eufemiano Fuentes abgeheftet hat, den Schriftverkehr mit seinen Anwälten, ein paar Notizen. In der schwarzen Plastiktüte trägt er das ganze Desaster seiner Karriere als Radrennfahrer mit sich herum.

Jaksche war ein Kunde von Fuentes, dessen Doping-Labor vor einem Jahr von der spanischen Polizei ausgehoben wurde. Die Operación Puerto der spanischen Ermittler hat den größten Skandal in der Geschichte des Radsports ausgelöst. Fahrer wie Jan Ullrich und Ivan Basso sollen Kunden von Fuentes gewesen sein und weitere 50, vielleicht sogar noch viele mehr. Doch die Ermittlungen wurden vor knapp vier Monaten eingestellt, weil es keine rechtliche Grundlage für Anklagen gibt. Die beteiligten Fahrer und Teamleiter schweigen oder streiten ab, ein paar Teams haben seitdem den Neuanfang ohne Doping verkündet, die meisten anderen hoffen, dass der Sturm bald vorüber ist und alles weitergeht wie bisher.

In den Akten der spanischen Polizei taucht Jaksche unter dem Codenamen "Bella" auf. Bella, so hieß Jaksches schwarze Labradorhündin. Er hat sie vor drei Jahren einschläfern lassen, sie wurde 16 Jahre alt, und als Doktor Merino Batres, ein Hämatologe aus Madrid und Helfer Fuentes', von ihm wissen wollte, ob er als Codenamen für die Blutbeutel den Namen des Hundes nehmen könne, antwortete Jaksche: "Ja, Bella."

Er ist ins Hotel Universo gekommen, die schwarze Plastiktüte in der Hand, weil er sich entschieden hat, die Wahrheit zu erzählen. Er ist der erste Fahrer von der Fuentes-Liste, der öffentlich das Schweigen bricht. Er ist jetzt ein Kronzeuge.

"Ich bin Bella", sagt Jaksche. "Es ist mein Blut, das dort in drei Beuteln gefunden wurde. Ich bin auch tatsächlich die 'Nr. 20' aus den Akten, und ich war 2005 und 2006 Kunde von Doktor Fuentes in Madrid."

Jaksche erzählt aus dem Leben eines Radsportprofis. Über die logistische Meisterleistung, mit der Fuentes Dutzende Fahrer mit frischem Blut versorgte. Über das Epo, das ihm Ärzte gaben. Über die Kortikoide, über die er sich mit Bjarne Riis austauschte. Über das, was passiert, wenn man versucht, eine Tour de France ohne Epo zu fahren. Über die Teamleiter, die er als Profi erlebte und die das Doping in ihren Rennställen systematisch und umfassend förderten und jetzt immer noch bei der Tour de France, die am Samstag in London beginnt, in den Begleitautos sitzen.

Jörg Jaksche ist ein Kronzeuge, weil die Omertà, das Gesetz des Schweigens, nicht mehr funktioniert. Die Omertà hat funktioniert, weil alle, Teamleiter, Ärzte, Fahrer, Masseure, Mechaniker, von den Sünden der anderen wussten. Jeder war erpressbar, jeder schwieg. Nun schreibt Jaksche die Geschichte, die der belgische Masseur Jef D'hont und die ehemaligen Telekom-Fahrer Bert Dietz, Rolf Aldag und Erik Zabel für die neunziger Jahre erzählten, bis in die Gegenwart fort.

Jörg Jaksche, 1,85 Meter groß, 70 Kilo leicht, das Gesicht mit scharfen Kanten und einem ausgeprägten Kinn, ist jetzt 30 Jahre alt. Seit zehn Jahren fährt er als Profi für die großen Teams und gehört zu den besten 20 Fahrern im Feld. Er ist jetzt bei einem zweitklassigen italienisch-russischen Team unter Vertrag, das erst gar nicht zur Tour eingeladen wird.

Dreißig, das ist das Alter, in dem andere die Tour de France gewinnen. Das Alter, in dem ein guter Fahrer sehr gutes Geld verdienen kann. Dreißig, das ist auch das Alter, in dem man sich keine langen Pausen mehr erlauben darf.

Jaksche macht sich zum Kronzeugen, auch weil er bei den großen Rennen nicht mehr fahren darf. Er will sich den Radsportverbänden zur Verfügung stellen und der Welt-Anti-Doping-Agentur, und er wird sich auch von deutschen Staatsanwälten befragen lassen, weil er nicht zwei Jahre oder länger gesperrt, sondern schon im nächsten Jahr wieder dabei sein will.

Er findet, dass die Fahrer, Ullrich, Basso und die anderen, die in den spanischen Akten auftauchen, nun die Sündenböcke seien, während der Rest immer noch fährt und wohl auch noch dopt. Und es ärgert ihn, dass die Teamleiter heute so tun, als wären sie ganz vorn im Kampf gegen das Doping.

Was er nicht abschätzen kann, sind die Konsequenzen, die sein Geständnis haben wird. Er will kein Totengräber des Radsports sein, der 200 Kollegen arbeitslos macht. Er fürchtet die juristischen Folgen, den Ruf des Verräters, die Scham, alle belogen zu haben, die Eltern, die Freunde, die Öffentlichkeit. Deswegen ist Jaksche an diesem Freitag in Lucca auch ein Kronzeuge, der wackelt.

Sein Vater ist Augenarzt, sein Großvater war es auch, er wäre es ebenfalls geworden, wenn nicht der Radsport dazwischen gekommen wäre. Jörg Jaksche ist ein guter Zeuge, er ist eloquent, er kann Strukturen beschreiben. Er ist der Gefangene eines Systems, der nun den Ausbruch wagt.

SPIEGEL: Herr Jaksche, Sie haben Ihre Karriere als Profi vor zehn Jahren bei dem italienischen Team Polti begonnen. Teamleiter war Gianluigi Stanga, der schon seit 1983 Radrennställe führt. Heute ist Stanga Chef des Milram-Rennstalls, bei dem auch Erik Zabel fährt. Wann kamen Sie dort das erste Mal mit Doping in Berührung?

Jaksche: Bei der Etappenfahrt Paris-Nizza 1997, meinem ersten großen Rennen. Es lief ganz gut, auf einer Etappe hatte ich den Mont Ventoux in der Spitzengruppe überquert. Ich erinnere mich, weil es wirklich ein entscheidender Tag für mich war. Im Ziel kam Stanga auf mich zu und fragte: Was hast du genommen? Ich verstand nicht und fragte zurück: Was soll ich genommen haben? Wahrscheinlich dachte er, ich will mich über ihn lustig machen. Am Abend besuchte er mich auf dem Hotelzimmer, das ich mit Dirk Baldinger teilte. Stanga nahm mir Blut ab und maß meinen Hämatokritwert, um herauszufinden, ob ich Epo genommen hatte. Ich hatte einen 41er Wert, relativ niedrig. Ich schaute Baldinger an: Was macht der da? Was bedeutet das? Ist das gut oder schlecht? Stanga sagte nur: Dem Jaksche gebe ich einen Fünfjahresvertrag. Ich war wohl naiv.

SPIEGEL: Sie waren als Amateur Juniorenmeister im Straßenvierer und mit dem Nationalteam Vizeweltmeister der Junioren. Da gab es kein Doping?

Jaksche: Ich habe in meiner Zeit als Junior und als Amateur nie gedopt. Natürlich war es damals so, dass wir uns bei Rennen in Italien manchmal ganz schön wunderten. Da fährt man mit der kompletten Amateurnationalmannschaft, belegt am Ende Platz 160 bis 170 und fragt sich: Wie können normale Menschen so schnell fahren? Koffeintabletten oder ein paar Schlucke Cola mit Sekt gemischt, ein Aufputscher für die letzten Kilometer bis zum Ziel, oder eine Aspirin, das war bei mir alles. Nichts, was damals auf der Doping-Liste stand. Aber man gewöhnt sich daran, etwas zu schlucken, damit es dir morgen bessergeht. Man geht ins Höhentrainingslager nach Mexiko und bekommt die Zusammenhänge erklärt. Dass man in der Höhe trainiert, damit sich die roten Blutkörperchen vermehren, die den Sauerstoff transportieren. Und irgendwann kriegst du mit: Den gleichen Effekt kann man auch mit Medikamenten erzielen. So sammelt sich im Laufe der Jahre ein Mosaik medizinischen Wissens an.

Jaksche war 20 Jahre alt und verdiente bei Polti 40.000 Mark im Jahr. 1997 gewann Jan Ullrich die Tour de France, es war ein triumphales Jahr für den deutschen Radsport. Auf Epo wurde noch nicht direkt kontrolliert, von Doping war damals kaum die Rede. Im Januar 1997 traf sich das Team Polti an der Ligurischen Küste zum Trainingslager.

SPIEGEL: Konnten Sie mithalten?

Jaksche: Ich war gut in Form, ich kam locker die Berge hoch. Nach dem Training sagte ein Teamarzt von Polti, ich solle Vitamin B12, Folsäure und Eisen zu mir nehmen. Kein Problem, antwortete ich, das kaufe ich mir daheim. Nein, hieß es, das geben wir dir, und wenn du zu Hause bist, musst du dir die Spritzen selber setzen. So geht das los, das Fixertum, es ist ein fließender Übergang.

SPIEGEL: Wann wurde Ihnen das erste Mal Epo gespritzt?

Jaksche: Kurz vor der Tour de Suisse im Juni 1997. Wir waren in einem Hotel am Bodensee. Stanga sagte, er wolle jetzt anfangen mit der Behandlung. Er wollte herausfinden, was bei mir wirkt. Was er meinte war: Wir bringen dir jetzt bei, wie der Radsport funktioniert. Es war mein Crashkurs. Ein Betreuer spritzte mir abends auf meinem Zimmer Epo. An die Menge der Einheiten kann ich mich nicht erinnern, aber ich wusste inzwischen, dass Epo das Blut verdickt, wenn die Dosis zu hoch ist. Im Bett dachte ich dann: Hoffentlich bleibt heute Nacht mein Herz nicht stehen! In den nächsten Tagen bekam ich auch Medrol-Tabletten, die enthalten ein Hormon aus der Nebennierenrinde und wirken entzündungshemmend. Und auch Synacthen wurde ausprobiert, das fördert die körpereigene Produktion von Kortikoiden, es wirkt sehr schnell, man kann es gut für ein Tagesrennen nehmen oder bei wichtigen Etappen. Man fühlt sich zwar am Anfang des Rennens schlecht, etwas aufgequollen, als ob man zu viel Wasser getrunken hätte, aber nach 80 Kilometern macht es plötzlich klick. Das Problem war, dass ich überall am Oberkörper und auf den Armen kleine Pusteln bekam. Nach der Tour de Suisse ließ ich mich erst in Nürnberg behandeln; die Ärzte dort rätselten über die Ursache, ich konnte ihnen ja nicht sagen, was ich alles genommen hatte. Ich habe mich schließlich in Italien behandeln lassen, ich bekam wochenlang Antibiotika und war geschwächt. Im Scherz sagte Stanga: Na, hoffentlich bist du nicht allergisch auf Epo.

Die Tour de France konnte Jaksche in seinem ersten Profijahr nicht fahren, weil er durch die Behandlung mit den Antibiotika entkräftet war. 1997, das war die Tour, die Jan Ullrich gewann und ihn zum Helden machte. Mehr als zwölf Millionen Zuschauer sahen ihn im deutschen Fernsehen.

SPIEGEL: Haben Sie sich in Ihrer Anfangszeit nicht gefragt: Was ist denn hier los bei den Profis?

Jaksche: Ich wollte aufhören, ich fühlte mich unwohl. Die Spritzerei war mir einfach zu asozial. Aber mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Irgendwann kamen die ersten kleinen Erfolge, du wirst professioneller und siehst vieles nicht mehr. Es ist genau so, wie es Bjarne Riis bei seinem Geständnis gesagt hat: Die Medizin gehört zu deinem Alltag.

SPIEGEL: Sie haben weitergemacht.

Jaksche: Stanga hatte meinen Vertrag verbessert. 1998, in meinem zweiten Jahr, verdiente ich schon 80.000 Mark. Er sagte: Du musst dieses Jahr die Entdeckung der Tour werden. Und wenn du unter die ersten 20 fährst, musst du nichts für die Medizin bezahlen.

SPIEGEL: Stanga war es, der die Medikamente besorgte?

Jaksche: Wer das jetzt besorgt hat, weiß ich nicht. Ich jedenfalls nicht. Wo hätte ich mir das Zeug auch besorgen sollen? In Ansbach in der Apotheke? Mein Saisonplan war ganz auf den Juli ausgerichtet, auf die Tour de France. Zwei Wochen vor der Tour de Suisse habe ich mit der Epo-Kur begonnen. Jeden zweiten Tag 1000 bis 2000 Einheiten. Skrupel gab es keine mehr. Man bekommt ja beigebracht, dass es so schlimm ja nicht ist. Das, was ich machen musste, damit ich meinen Beruf besser erfüllen konnte, das habe ich gemacht. Die Logik ist: Du passt dein Leistungsniveau dem Rest an, weil jeder es tut. Im Radsport lebst du in einer Parallelwelt.

SPIEGEL: Hatten Sie keine Angst, Ihre Gesundheit zu ruinieren?

Jaksche: Auch wenn das jetzt nach Selbstbeweihräucherung klingt: Ja, ich habe gedopt, aber ich habe es nicht übertrieben. Ich habe nie künstliches Hämoglobin oder sowas genommen, wo du einen allergischen Schock erleiden kannst. Und du beruhigst dich damit, dass ein Bodybuilder 16.000 Einheiten Wachstumshormon am Tag nimmt und man selbst eine Weile 800 Einheiten zur Regeneration. Dann denkst du: Na ja, so viel ist es jetzt auch nicht.

Das Interview führten die SPIEGEL-Redakteure Lothar Gorris, Detlev Hacke und Udo Ludwig.

Lesen Sie morgen im zweiten Teil des Interviews: "Die Mannschaftsleitung hat alles gewusst." Jaksche spricht über das Doping-System beim Team Telekom und erhebt schwere Anschuldigungen gegen den damaligen Teamchef Walter Godefroot.

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